16.095 km von Zuhause: HOME

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Es ist Mittag an einem heißen Sommer-Montag im Januar und ich spaziere im Schatten von majestätisch anmutenden Eukalyptusbäumen dem Inneren von Melbourne entgegen. Eine angenehme Brise trägt mir ihren erfrischenden Duft für eine kurze Weile hinterher. Ich biege auf die breite St Kilda Road ab und erinnere mich, dass ich diesen Weg früher manchmal in meiner Mittagspause zurückgelegt habe. Schnellen Schrittes und immer mal wieder mit einem Blick auf die Uhr, um dem Büro nur nicht allzu lang fern zu bleiben. Eine Armbanduhr besitze ich inzwischen lange nicht mehr und in Bezug auf die Geschwindigkeit würde ich meinen Gang heute eher als Schlendern bezeichnen. Die Stadt liegt vor mir mit all ihren schwindelerregend vielen Möglichkeiten. Ich habe fünf Jahre in Melbourne gelebt, was mache ich jetzt als Touristin hier?

Während ich gedanklich noch diverse Optionen für die nächsten Stunden durchgehe, komme ich zum Arts Centre, bei dessen allerersten Anblick ich vor vielen Jahren erst einmal unwillkürlich die Augenbrauen hochziehen musste. Die 162 Meter spitz in die Höhe preschende weiße Stahlkonstruktion des Turmes kam mir damals sehr funktionslos vor und löste erst einmal eine gehörige Portion Zweifel am Sinn des ganzen Gebildes aus. Im Laufe der Jahre und mit einer zunehmenden Vorliebe für interessante Strukturen lernte ich seine visuellen Vorzüge allerdings durchaus zu schätzen und die Frage nach dem Zweck einfach sein zu lassen. Schönheit geht auch ohne Sinn und entfaltet sich am besten jenseits von Logik.

Am Straßenrand steht ein alter blau-metallic-farbener VW Bus, der als mobiler Verkaufsstand für Kaffee und Snacks umfunktioniert wurde. Da ist es wieder, mein Sinnbild für Auszeit und Abenteuer. Eine wahre Auszeit lässt sich nur schwer planen, denn eigentlich geht es doch darum, einfach dem zu folgen, was da kommt… Und wer zu viele Pläne macht, läuft Gefahr, an den wahren Schätzen vorbeizulaufen. Ich drehe mich um und erblicke auf der für Januar überraschend grünen Grasfläche neben dem Arts Centre ein etwa fünf Meter hohes Holzhaus. Seine Wände bestehen aus unzähligen kleinen Fächern, in denen jeweils ein kleines Holzhäuschen aufgestellt ist. Bunt gestaltet in schillernden Farben, die mich einladen, näher zu kommen.

HOME. So heißt die gerade eröffnete Freiluftausstellung, die versucht zu ergründen, was dieses Wort für uns Menschen als Individuen, Familien und Gemeinschaften bedeutet. 7.000 kleine Häuschen wurden in den letzten Monaten in Melbourne und Victoria in zahlreichen Community Workshops gestaltet, 1.100 davon befinden sich jetzt in den Fächern des großen Holzhauses – von den Melburnians schlicht The Big House genannt – während der Rest überall in der Stadt verteilt ist und auf freudig überraschte Entdeckerinnen und Entdecker wartet.

Interessanterweise habe ich mir die Frage nach der Heimat seit meiner Rückkehr nach Australien selbst schon mehrere Male gestellt. Während ich so das Holzhaus umrunde und die einzelnen Häuschen näher betrachte, wird mir klar, wie vielfältig die Auffassungen und Ideen dazu sind. Ein Haus mit kleinen Stöckchen beklebt. Ein anderes mit Knöpfen. Eins mit Holzbuntstiften. Eins mit alten Buchseiten. Musiknoten und eine kleine Drehorgel an der Vorderseite. Ein gestricktes Haus. Ein gehäkeltes Haus. Ein Haus aus Mosaiken. Ein Haus beklebt mit kleinen Schrauben und Muttern. Häuser bemalt mit den unterschiedlichsten Motiven. Mal abstrakt, mal bildhaft. Herzen. Ein Papagei. Eine Ananas. Bienen. Blumen. Bäume. Landschaften. Schneeflocken. Die deutsche Flagge. Ein Selbstportrait. Eine Familie. Ein Traumfänger. Mit Sternen bedeckt. Sonne und blauer Himmel. Eins mit Punkten bedeckt. Eins mit Fragezeichen.

HOME vereint mehrere Konzepte: Heimat. Zuhause. Haus. Aus den Lautsprechern am Holzhaus ertönen Stimmen von Menschen, die ihre Gedanken zu diesem Thema teilen. Sie erzählen von den Häusern, in denen sie leben. Einige reflektieren über die Orte ihrer Herkunft, z.B. Syrien. Ich erinnere mich an ein Paar, das gestern im Restaurant neben mir saß und sich ausführlich über Aufbau, Lage, Umgebung und Einrichtung ihres offenbar neuen Hauses austauschte. Das Haus an sich – ein großes Thema in der australischen Kultur.

Ein befreundetes Paar präsentierte mir vor einigen Tagen stolz ihr sehr geräumiges Haus im schon fast ländlichen Nordosten von Melbourne. Genug Platz zu haben – das ist es, was sie seit dem Umzug aus ihrem beengten kleinen Stadthaus am meisten an ihrem neuen Zuhause schätzen. Auch traf ich auf einen deutschen Einwanderer, der seit 20 Jahren hier lebt und seither sieben Mal umgezogen war. Immer dann, wenn ein Haus ausgebaut und schön eingerichtet war, verkaufte er es zu einem höheren Preis und suchte sich mit seiner Familie eine neue Bleibe, die dann ebenfalls ausgebaut und mit der Zeit wieder verkauft wurde. Das Zuhause als Einkommensquelle.

Eine tiefe kräftige Frauenstimme mit australischem Akzent holt mich zurück in die Gegenwart. „Ich verbinde damit keine Konstruktion, sondern ein Gefühl und es geht dabei um Rituale. Ein Ort, an den ich mich zurückziehen kann. An dem ich Raum für meine persönlichen Rituale habe.“

Als ich neulich eine viel gereiste Freundin frage, entgegnet sie geradeheraus: „Home is where the heart is.“ Ich mag diesen offenen Ansatz. Es ist das Gefühl der inneren Geborgenheit. Egal welche Erlebnisse, Begegnungen, Menschen, Tätigkeiten, Dinge oder Orte dieses Gefühl auch immer in uns auslösen mögen. Aber es ist ganz bestimmt nicht nur auf ein Fach beschränkt. Ich glaube, jeder Mensch hat sein eigenes Holzhaus mit vielen kleinen Fächern. Und wir leben, um diese nach und nach zu füllen. Mit dem, was uns Freude macht. Was unsere Neugierde weckt. Unser Herz zum Lachen bringt.

Ich habe es mir vor dem Arts Centre im Schatten gemütlich gemacht, beobachte die Menschen, wie sie aus allen Richtungen neugierig auf das Holzhaus zuströmen. Sie finden die Häuschen, die sie am meisten ansprechen. Sie freuen sich. Tauschen sich aus. Manche lichten sie ab um sie mitzunehmen. Um sich inspirieren zu lassen. Oder vielleicht um sich in der Erinnerung an diese Entdeckung neu zu erfreuen. Im Hintergrund ertönen die Klänge eines chinesischen Streichinstruments aus dem 10. Jahrhundert. Ein alter asiatischer Mann mit langem weißen Haar und Bart spielt auf einem Erhu. Ich kann 16.095 km von meiner Heimat entfernt sein und bin für den Augenblick doch hier zuhause. Einfach, indem ich mich auf das einlasse, was sich da vor mir offenbart und es als Geschenk annehme. Am anderen Ende der Welt. Umgeben von Kunst, Kreativität, Kultur – dem, was uns Menschen miteinander verbindet. Und meine eigenen Fächer füllt.