Mungo: Drei Frauen, die starke Spuren hinterlassen

Veröffentlicht in: Natur, Reiseberichte, Reisen, Spiritualität | 0

Mein nächstes Ziel ist Lake Mungo, jener ausgetrocknete See im südwestlichen Nirgendwo von New South Wales, der es mir so angetan hat, dass es mich bereits zum vierten Mal dort hinzieht. Die Stunden, durch die ich mich den Sunraysia und später den Calder Highway entlang Richtung Norden bewege, geben mir Raum, den vielen schönen Eindrücken der letzen Tage nachzuspüren. Es ist eine Strecke, die ich schon immer gern mochte: endlos weite Felder, aus denen einzelne Bäume oder kleine Baumgruppen hervorragen – unter einem strahlend blauen Himmel mit weiß leuchtenden Schönwetterwolken, die hier scheinbar dauerhaft zur Landschaft gehören.

Als ich Mildura am Nachmittag erreiche, sind es 37 Grad – ein Temperaturanstieg von 13 Grad seit meiner Abfahrt heute Vormittag aus den Grampians. Im Besucherzentrum will ich mich nach der aktuellen Beschaffenheit der in den Mungo Nationalpark führenden Arumpo Road erkundigen. Die Dame am Schalter mustert mich mit einem abschätzenden Blick und entgegnet mit einem leicht belehrenden Unterton „Es ist sehr heiß dort draußen.“ Ich frage nach, wie heiß. Sie antwortet nicht, beginnt stattdessen einige Karten und Broschüren zusammenzusammeln, die sie mir schließlich überreicht – allerdings nicht, ohne ich darauf hinzuweisen, dass ich ausreichend Wasser mitnehmen muss. „Sind 50 Liter genug?“

Ich bin schon auf dem Weg zum Ausgang, da zieht es mich plötzlich zu den Infotafeln, die an den Wänden des Besucherzentrums angebracht sind. Ich entdecke das Bild einer jungen Aborigine mit langem dunklen Rock und weißer Bluse. Es ist Mary Woorlong, die bei vielen Historikern als letzte Überlebende ihres Stammes hier in der Gegend von Mildura gilt. Als Aktivität schlägt der Text einen Besuch ihres Grabes vor und ich gehe entschlossen zurück zum Empfangsbereich, um mehr darüber zu erfahren. Die Dame, es ist eine andere als zuvor, schaut mich ratlos an, als ich sie nach dem genauen Ort des Grabes frage. Sie greift zum Telefonhörer, legt nach einigen Minuten wieder auf und zuckt mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck ihre Schultern. Sie greift erneut zum Telefon, verkündet nach wenigen Minuten sichtlich erleichtert, dass der örtliche Council mir weiterhelfen kann und erklärt mir den Weg ins Rathaus. Keine zehn Minuten später bin ich dort und eine junge Frau empfängt mich mit einem Stapel Kartenmaterial in A3-Größe – die Stelle von Marys Grab bereits fein säuberlich auf diversen Ansichten farblich markiert.

Der Weg zum Nichols Point Cemetery führt mich ca. 5 km aus Mildura heraus, vorbei an sich weit in die Landschaft streckende Weinfelder und Obstplantagen. Der Friedhof ist so groß, dass er mit dem Auto befahren werden kann, was in Australien durchaus üblich ist. Ich fahre durch den Haupteingang, stelle das Auto unter dem Schatten eines Baumes ab und begebe mich mit meinem Papierstapel auf die Suche nach Marys Grab. Die Karten sind so selbstverständlich, dass ich mich schon nach wenigen Momenten siegessicher vor ihrer letzten Stätte wähne. Doch es steht nicht der Name Woorlong auf dem Grabstein. Und auch nicht auf dem daneben, dahinter oder davor. Ich vergleiche, zähle die Reihen vertikal und horizontal, zähle sie noch einmal. Es wird immer heißer. Der Wind stößt eine heftige Böe aus und bringt mir die Blätter durcheinander. Ich drehe den entsprechenden Kartenbereich auf den Kopf und versuche die Ortung des Grabes auf umgekehrte Weise noch einmal, doch Fehlanzeige. Ich versuche, wenigstens unter den anderen Namen eine Übereinstimmung zwischen den Grabinschriften und der Karte zu finden, doch auch hier kein Erfolg. Dabei könnten die Zeichnungen nicht eindeutiger sein.

Gerade als ich mich frage, ob ich mich wohl im richtigen Bereich des Friedhofes befinde, ertönt eine tiefe Männerstimme hinter mir. „Kann ich irgendwie weiterhelfen?“ Ein Mann mittleren Alters mit Sonnenbrille, Hut und dicker Arbeitskleidung steht plötzlich vor mir. Ich erkläre ihm mein Anliegen und er schlägt vor, dass ich mich in mein Auto setze und ihm mit seinem Wagen folge. Gesagt – getan, und so bewegen wir uns tatsächlich in einen anderen Teil des Friedhofes. Es stellt sich heraus, der vermeintliche Haupteingang war nur ein Seiteneingang. In Nullkomma-Nichts stehen wir vor dem Grab von Mary Woorlong und Darren erklärt mir einige Besonderheiten, die darauf schließen lassen, dass das Grab nicht billig war. Ein metallener Bumerang ist über dem Grabstein angebracht, auf dem Stein die Inschrift „Mary returns home“, darunter die für Aborigine-Gräber typische Silhouette eines Kopfes aus der Seitenansicht, gefolgt von den Worten „Last of the Kulkyne tribe“. Am Kopf der Grabumrandung ihr Name und ihr Sterbedatum – 11. November 1942.

Mary arbeitete als sehr junges Mädchen bei einer gewissen Mrs. Robertson auf der Kulkyne Station und im Verlauf ihres Lebens als Kinderpflegerin und Hausmädchen bei zahlreichen Familien, die sie alle sehr schätzten. Darren weist mich auf ein doppelt so breites Grab mit dem Namen „Lottie“ hin, das sich neben Marys Grab befindet. Da Lottie ein typischer Name für eine Aborigine ist, geht er davon aus, dass es eine Verbindung zu Mary gibt. Allerdings gibt es an diesem Grab keinerlei Verzierungen, Inschriften oder Datierungen, die einen Anhaltspunkt geben könnten, wer sich dahinter verbirgt oder in welch einer Art Beziehung Lottie und Mary miteinander standen. Wer war Lottie? Mein kleiner spontaner Abstecher auf den Friedhof von Mildura gibt mir ein Rätsel auf, das mich noch eine Weile beschäftigen wird.

Es ist früher Abend, als ich Mildura nach ein paar letzten Einkäufen Richtung Norden verlasse und am gewaltigen Murray River die Grenze zu New South Wales überquere. Ich biege in die Arumpo Road ab und ein sofortiges Glückgefühl stellt sich ein, das immer größer wird, je näher ich dem Mungo National Park komme. Vor mir liegen 110 km Straße durch das Hinterland, 88 davon auf unbefestigter Sandpiste, die zum Teil so sandig ist, dass das Fahren höchste Aufmerksamkeit erfordert. Es dauert nicht lange und ich komme an dem verlassenen, über Kopf liegenden Wrack eines blauen Kleinwagens vorbei, umgeben von Glassplittern zerschlagender Scheiben. Eine aufgeschnittene Jeans liegt vor der Beifahrertür, der herausgerissene Tacho hinter dem Auto, daneben eine leere Bierdose mit den mahnenden Worten Drink Wise, trinken Sie mit Bedacht.

Ich erinnere mich an meinen letzten Besuch von Mungo vor fünf Jahren, bei dem ich ebenfalls auf dieser Straße an einem Unfall vorbeikam. Fünf junge indische Männer hatten sich mit dem Auto überschlagen, der Krankenwagen war bereits da und der schwerverletzte Fahrer des Wagens musste kurze Zeit später von den Fliegenden Ärzten in das nächste Krankenhaus ausgeflogen werden. Die Flugpiste befand sich gleich hinter der Terrasse meiner Unterkunft, die ich inzwischen erreicht hatte, so dass ich den weiteren Verlauf hautnah miterleben konnte. Die riesige rote Staubwolke, die das Kleinflugzeug beim Abflug aufwirbelte und die sich dann mit einem apokalypsenartigen Wusch-Geräusch über die Umgebung niederließ, werde ich wohl nie vergessen.

Mehrere verweste Känguru-Kadaver kreuzen wenig später meinen Weg. Eine weitere traurige Realität hier draußen und so gut wie überall auf den Straßen Australiens. Road Kill heißt es im Englischen. In den letzten Tagen wäre ich in der Dämmerung selbst fast zweimal mit einem Känguru zusammengestoßen. Eine dezente Warnung, sich dem Übermut trotz allen Freiheitsgefühls nicht zu sehr hinzugeben und den sandigen Spuren lieber mit viel Vorsicht zu folgen.

Auf der linken Seite der Arumpo Road komme ich an einem Schild vorbei, das meine Gedanken wieder aufheitert. „Rest Area“ – ein alter ausrangierter Fernseher steht auf einem kleinen Beistelltisch, drumherum vier alte weiße Plastikstühle. Ich mag diese Art von Humor. Die Szene erinnert mich an ein anderes schräges Produkt spontaner freier Outback-Kunst, dem ich vor Jahren einmal begegnet bin: ein mit unzähligen BHs behängter Baum, an dem vorbeikommende Frauen ihrem Freiheitsbedürfnis mitten in der Wildnis Ausdruck schenken können.

Ich bin angekommen und blicke auf den vor etwa 17.000 Jahren ausgetrockneten Lake Mungo. Er birgt so viel kostbare Geschichte und Kultur in sich, dass es kaum möglich ist, die Bedeutung dieses Ortes in einer Begegnung zu begreifen. Einst ein acht Meter tiefer See mit einer Fläche von 120 Quadratkilometern und heute ein Teppich aus den Grau-, Braun- und Grüntönen der hiesigen Gebüsche auf einem beige-gelben Sandbett. Vereinzelt verziert mit den sonnengelben Farbklecksen der Poached Egg Daisies – Wildblumen in der Form von Spiegeleiern. Und immer mal wieder frequentiert von einer Schar Emus, die sich mit ihrem Gefieder chamäleonartig in die Landschaft einfügen und oft erst bei genauem Hinsehen auffallen.

Am Horizont kann ich in der Ferne die Mungo Lunette ausmachen, eine sichelförmige 26 km lange Sanddüne, die an die Form des Mondes in seinem ersten Viertel erinnert. So ist er in den letzten Tagen passenderweise auch gerade am Nachthimmel erschienen. Die Düne ist bedeckt mit verschiedensten aus Sand und Lehm bestehenden skulpturartigen Gebilden, die der Wind im Laufe der Zeit geformt hat und die als Walls of China bekannt sind.

Am zweiten Morgen meines Aufenthaltes treffe ich mich mit Tanya Charles, einer Rangerin des Nationalparks. Tanya gehört zum Stamm der Mutthi Mutthi, die zusammen mit zwei weiteren Aborigine-Völkern dieser Gegend die traditionellen Erben von Lake Mungo sind. Ihre Totems sind die Carpet Snake (Teppichpython) und das rote Riesenkänguru, wie ich gleich zu Beginn unseres Austausches erfahre. Auf unserer gemeinsamen Erkundungstour durch die mondartige Landschaft weiht sie mich in die Geheimnisse dieses für mich noch immer rätselhaften Ortes ein. Allerdings nicht, ohne mich vorher in ihrer Stammessprache offiziell willkommen zu heißen. Sie erklärt mir die vielseitige Verwendung bestimmter Bäume und Pflanzen um uns herum. Wir kommen an Mallee-Bäumen vorbei, deren Stämme für Didgeridoos verwendet werden, kosten die säuerlich bitteren Blätter der weiblichen Old Man’s Bush Pflanze, die mir noch am nächsten Tag Magengrummeln bereiten, und halten Ausschau nach Yams, deren Wurzeln die Aborigines nie im Ganzen ausgraben, sondern stets darauf bedacht sind, mindestens die Hälfte zurückzulassen. Einerseits für die Kängurus, andererseits für den Fortbestand der Pflanze.

An den Walls of China bewegen wir uns auf vier verschiedenen Erdebenen, die die Erosion im Laufe der Zeit freigelegt hat – die Älteste sage und schreibe 110.000 Jahre alt! Wir finden Knochen, Muscheln, Baumstümpfe, Werkzeuge und andere Artefakte, zu denen mir Tanya jeweils die Geschichte dazu erzählt, so wie sie sie mit ihrem reichhaltigen Wissen über Lake Mungo und seinen archäologischen Fundstücken interpretiert. Wir kommen an Stellen, an denen Frauen bzw. Männer ihre Zeremonien abhielten, finden Ocker in gelber (den Frauen zugeordneter) und roter (den Männern zugeordneter) Farbe, Überreste von Wombats, Tasmanischen Tigern, einer Schlange sowie Eierschalen und Fischknochen verschiedenster Herkunft.

All diese kleinen, auf den ersten Blick unscheinbar wirkenden Funde tragen dazu bei, dass langsam eine Vorstellung in mir lebendig wird, was für ein reichhaltiger Lebensraum hier einmal existierte. Ich sehe, wie Familien am Ufer des voll mit Wasser gefüllten Sees Camp halten, Rauch von den Lagerfeuern nach oben steigt. Männer im Hintergrund mit ihren Speeren auf Jagd gehen. Kinder spielen. Frauen in ihren Coolamons (Trageschalen aus Holz) Beeren sammeln. Oder das Abendessen in einem Termitennest vorbereiten, welches sie zuvor in großer Anstrengung ausgehöhlt haben und nun als Ofen verwenden.

Ende der Sechziger Jahre findet der Wissenschaftler Jim Bowler hier menschliche Überreste, die als Mungo Lady Berühmtheit erlangen werden und Zeugnis sind für die älteste Kremation der Menschheit. Die Funde werden zur weiteren Forschung nach Canberra gebracht. Tanyas Großmutter Alice Kelly erfährt in den Nachrichten davon und ist entsetzt, dass die Überreste ihrer Vorfahrin entwendet und zur Schau gestellt werden. Wenige Jahre später kommt es zur Entdeckung von weiteren menschlichen Überresten, dieses Mal von einem Mann, der als Mungo Man bekannt wird.

Ich erinnere mich an das Buch „Riding the Cockatoo Ridge“ von John Danalis, das ich vor vielen Jahren einmal gelesen hatte. Darin erzählt der Autor die Geschichte seiner (weißen) Familie, die in Queensland jahrelang den Schädel eines Aborigines in ihrem Regal zu stehen hatten und dieser dann an die rechtmäßigen Erben zurückgegeben wird, um seine letzte Ruhestätte zu finden. Die Geschichte ist mit viel Schmerz verbunden, denn für Aborigines ist es aufgrund ihrer durch ihre Kultur festgelegten Werte und Verantwortlichkeiten äußerst besorgniserregend, wenn ihre verstorbenen Vorfahren in ihrer Ruhe gestört sind.

Alice Kelly beginnt unter ihren Stammesangehörigen Alarm zu schlagen und sie mit den anderen traditionellen Erben dieser Gegend, den Stämmen der Paakantji/Barkindji und Ngyiampaa, zusammenzubringen, um gemeinsam für die Rechte ihrer Kultur und der Toten einzustehen. Dies ist keine leichte Angelegenheit, denn sie steht zu Beginn ihrer Mission als einzelne schwarze Frau mit begrenzter Bildung einem Team weißer männlicher Wissenschaftler gegenüber. Es ist ein mühsamer Weg bis zur Rückkehr von Lady Mungo über dreißig Jahre später. Zwischen den traditionellen Erben herrscht Uneinigkeit darüber, was nun mit ihr geschehen soll. Der Öffentlichkeit zur Schau stellen oder doch lieber im Geheimen in einer letzten Ruhestätte bewahren?

Ich frage Tanya, ob sie froh ist, dass Lady Mungo damals entdeckt wurde. Sie bejaht. Für sie ist es der Beweis, dass die Aborigines nicht wie zunächst angenommen erst seit 4.000 Jahren existieren sondern seit mehr als 30.000 Jahren. Dass ihre Kultur über reichhaltige komplexe Zeremonien verfügt und ihre Lebensweise nicht mit der Primitivität von Tieren auf eine Stufe zu setzen ist – was bis vor einigen Jahrzehnten eine durchaus verbreitete Meinung unter den Weißen war. Dass die Geschichten aus der Traumzeit, die ihr als Kind erzählt wurden, keine La-La-Geschichten sind.

Wenn man Tanya über ihre Großmutter sprechen hört, spürt man schnell, welch eine intensive Verbindung zwischen den beiden besteht – auch heute noch 12 Jahre nach dem Tod ihrer Großmutter. Tanya hat ihr ganz eigenes Erbe angetreten, seit 16 Jahren arbeitet sie als Rangerin im Mungo National Park, der im Joint Management zwischen den Aborigines und Parks New South Wales geführt wird, was zu einem großen Teil Alice Kelly zu verdanken ist.

Lake Mungo ist ein Ort der Ruhe, an dem dennoch kein Stillstand herrscht sondern alles in permanenter Bewegung ist. Der Wüstenwind, der immer mal wieder als wellenartiges Rauschen zu vernehmen ist, hat hier viel Wirkungskraft. Jahr für Jahr bringt er Schicht für Schicht immer wieder Neues aus der Vergangenheit zutage. Für Tanya ist der Schutz dieser Offenbarungen besonders wichtig. Es sind kostbare Spuren, die zu einem erweiterten Bewusstsein führen. Die ihrer Kultur Wachstum ermöglichen und ihr neue Stärke verleihen.